Netzeitungs-Experiment will Bürger zu Online-Redakteuren machen

Die Berliner Nachrichten-Website Netzeitung will mit ihrer nun gestarteten eigenständigen „Readers Edition“ Leser zu Autoren von Nachrichten, Berichten und Geschichten des alltäglichen Lebens machen. Mit dem Aufruf „20 Millionen Redakteure gesucht“ hatte das Projekt bereits vor dem offiziellen Start für Diskussionen unter Bloggern und Journalisten gesorgt.
Inspiriert wurde die Readers Edition durch OhmyNews, Global Voices, Wikinews, www.current_tv, Flickr, Slashdot und Digg.com, die hauptsächlich durch Nutzer mit Inhalten gefüllt werden. Bei der Readers Edition soll es dabei anders als bei ähnlichen deutschsprachigen Projekten wie Jetzt (Süddeutsche Zeitung), Shortnews (Stern), NEON (ebenfalls Stern) und Opinio (Rheinische Post) um ausführliche Artikel gehen, nicht nur um Textschnipsel und kurz beschriebene Verlinkungen. Als „offene Zeitung“ will die Readers Edition Bürger zu Online-Redakteuren machen, die über beliebige Themen – auch bebildert – berichten können.
Neben Netzeitungs-Mitarbeitern werden sich auch ehrenamtliche Moderatoren aus der Leserschaft darum kümmern, die eingereichten Texte zu überprüfen und online zu veröffentlichen. Texte werden nur veröffentlicht, wenn die Fakten stimmen und niemand beleidigt oder zu Unrecht beschuldigt wird. Über die Einhaltung der Kriterien entscheiden die Moderatoren und in letzter Instanz die Netzeitung. Die Anmeldung zum Redakteur ist jedem möglich.
Eine Entlohnung für die Artikel gibt es zwar nicht, dafür können private Autoren jedoch auf einfache Weise mehr Menschen erreichen, als es mit dem eigenen Blog möglich wäre – und in ihrer Selbstbeschreibung auch auf die eigene Website verlinken. Während Zeitungs- oder Online-Redaktionen nur begrenzte Seiten- bzw. Mitarbeiterzahl haben, sollen in der Readers Edition auch Geschehnisse thematisiert werden können, die vielleicht in den professionellen Medien unbeachtet bleiben. Vor allem für die mitunter vernachlässigten lokalen Nachrichten könnte dies interessant sein.
„Readers Edition will einen anderen Blick auf die Nachrichtenwelt ermöglichen. Erzählen Sie, welche konkreten Auswirkungen die Bundespolitik auf die Menschen hat (Ressort Politik). Schreiben Sie, welche Ereignisse die Menschen vor Ort (Ressort Lokales) oder am Arbeitsplatz (Ressort Wirtschaft) bewegt. Berichten Sie von aktuellen Sportereignissen (Ressort Sport) oder von Neuigkeiten aus dem Internet- und Computer-Sektor (Ressort Web & Technik). Erzählen Sie anderen von neuen Filmen oder neuer Musik und Ereignissen, die Ihnen im Alltag begegnen (Ressort Vermischtes). Schreiben Sie über das, was Sie bewegt“, wirbt die Netzeitung für ihr Projekt.
Die Zeitung von Lesern für Leser ist „ein Experiment“, so der Geschäftsführer der Netzeitung Philip Dönhoff. „Wir bieten denen, die schreiben wollen nicht nur die moderne Plattform, sondern auch eine beachtliche Leserschaft“. Dies soll unter anderem dadurch erreicht werden, dass neue und interessante Meldungen auch in der Netzeitung verlinkt werden. Wirklich gute Leserartikel werden voraussichtlich auch direkt in die Netzeitung übernommen, gegen Entlohnung.
Da die Texte der Readers Edition unter einer Creative-Commons-Lizenz stehen, dürfen sie unter bestimmten Voraussetzungen auch kostenlos auf private bzw. nicht kommerzielle Websites übernommen werden, was für eine weitere Verbreitung sorgen dürfte. Ob die Texte lesenswert und gelungen sind, können die Leser selbst durch eine Bewertungsfunktion bestimmen. Öffentliche Kommentare zu Artikeln sind ebenso möglich.
Das Redaktionssystem basiert auf einem modifizierten WordPress, die eingetragenen Artikel werden von den Moderatoren freigeschaltet – oder mit Kommentar zur Nachbesserung zurückgewiesen. Nachdem Artikel online gegangen sind, lassen sie sich vom Autor zum Schutz vor Manipulationen nicht mehr ändern, wohl aber die Moderatoren über Änderungsvorschläge informieren.
In der Blogger-Szene und bei Journalisten stieß das Projekt gleichermaßen auf Lob und auf Kritik. Die Netzeitung sieht sich Vorwürfen ausgesetzt, dass die potenziellen Schreiberlinge trotz zu erwartender Werbung und Sponsoringverträgen unbezahlt bleiben würden. Laut Netzeitung müssen allerdings Mitarbeiter, Server, Datenverkehr, Software-Entwicklung und Community-Unterstützung finanziert werden.
Kritiker befürchten billige „Content-Sklaven„, während positive Stimmen in der Readers Edition ein interessantes Testfeld für angehende Jung-Journalisten und Journalismus-Studenten sowie im so genannten Citizen Journalism („Bürger-Journalimus“) eine Chance für die Demokratisierung der Medienwelt sehen. „Die Readers Edition macht den Rezipient zum Sender und ermöglicht eine Berichterstattung über Themen, die von klassischen Medien nicht beleuchtet werden“, lobt Phil von Sassen, Blogger beim Hauptstadtblog.de und Moderator bei der Readers Edition.
Wie sich das Experiment Readers Edition entwickelt, wird nicht nur die Golem.de-Schwesterpublikation Netzeitung gespannt beobachten. Da bereits seit vergangenem Freitag die fast 2.500 vorangemeldeten Interessenten die Plattform ausprobieren und Artikel online stellen konnten, sind zum heutigen offiziellen Start bereits erste Artikel unter www.readers-edition.de zu finden. Diese widmen sich etwa Themen wie der Solidarität unter streikenden Ärzten, der Praxistauglichkeit des Berliner Hauptbahnhofs und Neuigkeiten auf dem Softwaremarkt. Das Readers-Edition-Team erwartet, dass im Hinblick auf die am 9. Juni beginnende Fußballweltmeisterschaft 2006 auch Sport in der „offenen Zeitung“ stark thematisiert werden wird.